ICH ERINNERE MICH ...
WEIHNACHTEN ... eine Geschichte aus alter Zeit von Selma Lagerlöf

Weihnachtskarte aus alter Zeit ... | Foto: Dr. Manfred Schildknecht

LIEBE LESER, VORLESER UND ZUHÖRER!

Jedes Jahr in der Weihnachtszeit erinnere ich mich gern an eine kleine Geschichte von der Geburt Jesu, die die schwedische Schriftstellerin Selma Lagerlöf (1859-1940) in ihrer Sammlung  schöner Weihnachtsgeschichten zusammengestellt hat:

Es war an einem Weihnachtstag, alle anderen waren zur Kirche gefahren, außer meiner Großmutter und mir. Wir hatten nicht mitfahren können, weil die eine zu jung und die andere zu alt war. Und alle beide waren wir betrübt, dass wir nicht mitfahren und die Weihnachtslichter sehen konnten. Aber wie wir so in unserer gemeinsamen Einsamkeit saßen, fing Großmutter an zu erzählen:

„Es war einmal ein Mann“, sagte meine Großmutter, „der in die dunkle Nacht hinausging, um sich Feuer zu holen. Er ging von Haus zu Haus und klopfte an. „Ihr lieben Leute, helft mir!“, sagte er. „Mein Weib hat gerade ein Kind geboren und ich muss Feuer anzünden, um sie und den Kleinen zu wärmen.“ Aber es war tiefe Nacht, so dass alle Menschen schliefen, und niemand antwortete ihm. Der Mann ging und ging. Endlich erblickte er in weiter Ferne einen Feuerschein. Da wanderte er in diese Richtung und sah, dass das Feuer im Freien brannte. Eine Menge weiße Schafe lag rings um das Feuer und sie schliefen, und ein alter Hirte wachte über der Herde.
Als der Mann, der Feuer leihen wollte, zu den Schafen kam, sah er, dass zu Füßen des Hirten drei große Hunde schliefen. Die Hunde erwachten, als er näher kam, und öffneten weit ihre Mäuler, so als ob sie bellen wollten, aber es kam kein Ton heraus. Der Mann sah, wie sich die Haare auf ihren Rücken aufstellten, er sah ihre scharfen Zähne im Schein des Feuers weiß aufleuchten, und wie sie ihm entgegengelaufen kamen. Er spürte, wie einer der Hunde versuchte, in sein Bein hineinzubeißen, und einer in seine Hand, und wie sich einer anschickte, in seine Gurgel zu beißen. Aber ihre Kiefer und Zähne, mit denen sie zubeißen wollten, gehorchten ihnen nicht, und der Mann erlitt nicht den geringsten Schaden. Nun wollte der Mann weitergehen, um sich zu holen, was er brauchte. Aber die Schafe lagen so dicht aneinander, Rücken an Rücken, dass er nicht vorwärtskam. Da stieg der Mann auf den Rücken der Schafe und lief über sie hinweg bis zum Feuer. Und keines der Tiere erwachte oder bewegte sich auch nur.
Als der Mann nah genug an das Feuer herangekommen war, blickte der Hirte zu ihm auf. Er war ein alter, mürrischer Mann, der anderen hart und unfreundlich begegnete. Und als er den Fremden kommen sah, griff er nach einem langen, spitzen Stab, den er in der Hand zu halten pflegte, wenn er seine Herde hütete, und warf ihn nach ihm. Und der Stab fuhr zischend gerade auf den Mann los, aber ehe er ihn traf, wich er zur Seite und sauste an ihm vorbei, weit über das Feld. Nun kam der Mann zu dem Hirten und sagte zu ihm: “Guter Mann, hilf mir und leih mir ein wenig Feuer. Mein Weib hat eben ein Kind geboren und ich muss Feuer machen, um sie und den Kleinen zu wärmen. Der Hirt hätte am liebsten „Nein“ gesagt, aber als er daran dachte, dass die Hunde dem Mann nicht hatten schaden können, dass die Schafe nicht vor ihm davongelaufen waren und dass sein Stab ihn nicht hatte treffen können, da wurde ihm ein wenig bange und er wagte es nicht, dem Fremden das abzuschlagen, was er begehrte. Er sagte zu dem Mann „Nimm so viel du brauchst“. Aber das Feuer war beinahe ausgebrannt, es war nur noch ein großer Gluthaufen übrig, und der Fremde hatte weder Schaufel noch Eimer, worin er die glühenden Kohlen hätte tragen können.
Als der Hirt dies sah, sagte er abermals „Nimm so viel du brauchst!“
Und er freute sich, dass der Mann kein Feuer wegtragen konnte.
Aber der Mann beugte sich hinunter und nahm mit seinen bloßen Händen einige glühende Kohlen aus der Asche und legte sie in seinen Mantel. Und als er sie berührte, verbrannten die Kohlen weder seine Hände noch seinen Mantel; sondern der Mann trug sie fort, als wären es Nüsse oder Äpfel.
Als der Hirte, der ein so böser, mürrischer Mann war, das alles sah, begann er sich zu wundern: ›Was muss das für eine Nacht sein, in der die Hunde nicht beißen, die Schafe sich nicht fürchten, der Pfeil nicht tötet und das Feuer nichts verbrennt?‹ Er rief den Fremden zurück und sagte zu ihm: ›Was ist dies hier für eine Nacht? Wie kann es sein, dass alle Dinge dir ihre Barmherzigkeit zeigen? Da antwortete der Mann: ›Das kann ich dir nicht sagen, wenn du es nicht selber siehst‹, und wollte seines Weges gehen, um schnell das Feuer anzuzünden, das seine Frau und das Kind wärmen sollte. Doch plötzlich spürte der Hirte, dass er den Mann nicht aus den Augen verlieren durfte, bevor er nicht herausgefunden hatte, was all das bedeuten könnte. Er stand also auf und folgte ihm, bis er dessen Bleibe gefunden hatte.
Da sah der Hirt, dass der Mann nicht einmal eine Hütte hatte, um darin zu wohnen sondern sein Weib und sein Kind lagen in einer Bergrotte, wo es nichts gab als nackte, kalte Steinwände.
Aber der Hirt dachte, dass das arme unschuldige Kind vielleicht dort in der Grotte erfrieren würde, und obwohl er ein harter Mann war, wurde er davon doch ergriffen und beschloss dem Kind zu helfen. Und er löste sein Ränzel von der Schulter und zog daraus ein weiches, weißes Schaffell hervor. Das gab er dem fremden Mann, um sein Kind darauf zu betten.
Im selben Augenblick, in dem er zeigte, dass auch er barmherzig sein kann, wurden ihm die Augen geöffnet, und er sah, was er vorher nicht hatte sehen können und hörte, was er vorher nicht hatte hören können.
Er sah, dass rund um ihn ein dichter Kreis von kleinen, silberbeflügelten Engeln stand. Jedes von ihnen hielt ein Saitenspiel in der Hand, und alle sangen mit lauter Stimme, dass in dieser Nacht der Heiland geboren sei, der die Welt von ihren Sünden erlösen solle. Und nicht nur rings um den Hirten waren Engel, sondern er sah sie überall: in der Grotte, auf dem Berg und sie flogen unter dem Himmel und alle schauten auf das Kind.
Es herrschte eitel Jubel und Freude und Singen und Spiel, und das alles sah der Hirte in der dunklen Nacht, in der er früher nichts zu sehen vermochte. Und er wurde so froh und dankbar, dass seine Augen geöffnet waren, dass er auf die Knie fiel und Gott dankte.“
Als Großmutter so weit gekommen war, seufzte sie und sagte: „Aber was der Hirte sah, das könnten wir auch heute noch sehen, denn die Engel fliegen in jeder Weihnachtsnacht unter dem Himmel, wenn wir sie nur zu sehen vermögen.“
Und dann legte Großmutter ihre Hand auf meinen Kopf und sagte: „Dies sollst du dir merken: Nicht auf Lichter und Lampen kommt es an, und es liegt nicht an Sonne, Mond und Sterne, sondern worauf es ankommt ist, dass wir offene Augen und offene Herzen für unsere Mitmenschen haben.“

Liebe Leser, Vorleser und Zuhörer,
die Erinnerung an alte, gute Geschichten lässt einen nicht los, so wie diese alte Geschichte, an die man sich immer wieder mit Freude erinnern kann und die man immer wieder selber lesen, anderen vorlesen oder erzählen kann.
Schöne Erinnerungen an die Weihnachtszeit, eine besondere Zeit des Jahres, wünscht
Annegret Schildknecht
ehrenamtliche - Vorleserin, - Hospizbegleiterin, - Klinikseelsorgerin, -Telefon- Patin gegen Einsamkeit im Alter

Hinweis:
Alle Beiträge zu meinen digitalen Vorlesestunden siehe hier (bitte anklicken)
oder unter: www.wochenklick.de/vorlesen

Autor:

Annegret Schildknecht aus Eckental

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