1. Digitale, dialogische Vorlesestunde: Alle Senioren/Bewohner/Mitarbeiter im Seniorenzentrum MM u.a.Junggebliebene/DANKE für "den Laden am Laufen halten"
Wie das Rotkehlchen Karfreitag zu seiner roten Farbe kam

Herzrose, gemalt von Nune in der Kindermalwerkstatt mit Annegret Schildknecht in der Galerie "ZwischenRaum20" in Eckental-Forth | Foto: M.Schi.
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  • Herzrose, gemalt von Nune in der Kindermalwerkstatt mit Annegret Schildknecht in der Galerie "ZwischenRaum20" in Eckental-Forth
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Liebe Senioren, Bewohner/Mitarbeiter im Seniorenzentrum Martha-Maria in Eckental-Forth und andere junggebliebene Leser mit DANK an alle, die "den Laden am Laufen halten"!
Leider kann ich als Ehrenamtliche in der Sozialbetreuung seit der Corona Pandemie und den dadurch verordneten Besuchseinschränkungen die Bewohner nicht mehr besuchen und so kann ich auch bis auf Weiteres keine Vorlesestunden in den Gemeinschaftsräumen auf den jeweiligen Stockwerken und auch keine größeren Veranstaltungen im Festsaal mehr durchführen. Aber das wird alles nachgeholt, wie auch das gemeinsame Singen mit dem Bewohnerchor!
Jetzt zu Ostern hatte ich eine Geschichte von der schwedischen Schriftstellerin Selma Lagerlöf, die von 1858 bis 1940 gelebt und 1909 den Nobelpreis für Literatur bekommen hat, vorgesehen. Sie hat die folgende alte Legende für ihre Großmutter aufgeschrieben. Da ich derzeit den Text nicht vorlesen kann, erhalten Sie ihn auf diesem Wege zum Selbstlesen oder auch zum Vorlesen.
Das Rotkehlchen
und wie es am Karfreitag zu seiner roten Farbe kam

Das Rotkehlchen wurde als kleiner grauer Vogel erschaffen und kam ohne eine Spur von roter Farbe auf die Erde. Er flog los und als er ein Weilchen umhergeflogen war und sich die schöne Erde besehen hatte, auf der er leben sollte, bekam er Lust, sich selbst zu betrachten. Da sah er, dass er ganz grau war und seine Kehle war ebenso grau wie alles andere. Das Rotkehlchen wendete und drehte sich und spiegelte sich im Wasser, aber es konnte keine einzige rote Feder an sich entdecken.
Da flog der Vogel zum lieben Gott, dem Schöpfer, zurück. Der thronte gut und milde und tatkräftig und aus seinen Händen gingen Schmetterlinge hervor, die um sein Haupt flatterten, weiße Tauben saßen auf seinen Schultern und gurrten, und aus dem Boden rings um ihn herum wuchsen rote Rosen, weiße Lilien und rosa Tausendschönchen.
Das Herz des kleinen grauen Vogels pochte heftig vor Bangigkeit, aber in leichten Bögen flog er doch immer näher und näher zum Herrn, und schließlich ließ er sich auf seiner Hand nieder und fragte: „Warum soll ich Rotkehlchen heißen, wenn ich doch ganz grau bin vom Schnabel bis zum Schwanz? Warum werde ich Rotkehlchen genannt, wenn ich keine einzige rote Feder habe?“
Und der Vogel schaute mit seinen kleinen schwarzen Augen flehend um sich und wendete das Köpfchen. Ringsum sah er Fasane, ganz rot unter einem leichten Goldstaub, Papageien mit roten Halskragen, Hähne mit roten Kämmen, ganz zu schweigen von den Schmetterlingen, den Goldfischen und den roten Rosen. Und der Vogel dachte sich, wie wenig rote Farbe doch für ihn nötig wäre, nur ein einziger kleiner Farbtropfen auf seiner grauen Brust und er wäre ein schöner Vogel mit einer roten Kehle, der seinem Namen alle Ehre machen würde.
„Warum soll ich Rotkehlchen heißen, wenn ich ganz grau bin?“, fragte der Vogel abermals und die Antwort lautete: „Ich habe dich Rotkehlchen genannt, und Rotkehlchen sollst du heißen. Du musst selbst zusehen, dass du dir deine roten Brustfedern verdienst.“
Und mit dieser Antwort flog der Vogel aufs Neue, so grau wie war, in die Welt hinaus.
Er flog sehr nachdenklich und fragte sich, was wohl ein kleiner Vogel wie er tun könnte, um sich rote Federn zu verschaffen.
Das Einzige, was ihm einfiel, war, dass er sein Nest in einen roten Rosendornenbusch baute. Und so nistete er zwischen den Stacheln der Rose in einem dichten Dornengestrüpp. Es war, als erwarte er, dass ein Rosenblatt an seiner Kehle haften bliebe und etwas von seiner roten Farbe abgeben würde.
Eine unendliche Menge von Jahren war seit dem Tag der Schöpfung vergangen, diesem ganz besonderen Tag. Seit dieser Zeit hatten sowohl die Tiere als auch die Menschen das Paradies verlassen und sich über die Erde verbreitet. Und die Menschen hatten es so weit gebracht, dass sie gelernt hatten, den Boden zu bebauen und das Meer zu befahren, sie hatten sich Kleider und Zierrat geschaffen und sie hatten längst gelernt, große Tempel und mächtige Städte zu bauen, wie Rom und Jerusalem.
Da brach ein neuer Tag an, der auch in der Geschichte der Erde lange nicht vergessen werden sollte. Am Morgen dieses Tages saß das Rotkehlchen auf einem kleinen nackten Hügel vor den Mauern Jerusalems und sang seinen Jungen, die in dem kleinen Nest in einem niedrigen Dornenbusch dicht beieinander lagen, ein Lied vor. Das Rotkehlchen erzählte seinen Kleinen von dem wunderbaren Schöpfungstag und von seiner Namensgebung, so wie es bisher jedes Rotkehlchen seinen Kindern erzählt hatte.
„Und seht nun“, schloss es betrübt, „so viele Jahre sind seit dem Schöpfungstag vergangen, so viele rote Rosen haben geblüht, so viele junge Vögel sind aus ihren Eiern ins Leben geschlüpft, so viele, dass keiner sie zählen kann. Aber das Rotkehlchen ist noch immer ein kleiner, grauer Vogel, es ist ihm immer noch nicht gelungen, die roten Brustfedern zu erringen. Die kleinen Jungen rissen ihre Schnäbel weit auf vor Staunen. Und der kleine Vogel fuhr fort „Wir alle haben getan, was wir konnten, aber es ist uns nicht gelungen. Schon das erste Rotkehlchen traf einmal einen anderen Vogel, der ihm völlig glich, und es begann sogleich, ihn mit so heftiger Liebe zu lieben, dass es seine Brust erglühen fühlte. Ach, dachte es da, nun verstehe ich es: Ich soll so heiß lieben, dass meine Brustfedern sich von der Liebesglut, die in meinem Herzen wohnt, rot färben. Wir hofften auf die Liebe. Aber es misslang.“
Die kleinen Jungen zwitscherten betrübt, sie begannen schon darüber zu trauern, dass die rote Farbe ihre kleine flaumige Kehle wohl nie schmücken würde.
Und der alte Vogel sagte „Wir hofften auch auf unseren Gesang. Schon das erste Rotkehlchen sang so, dass seine Brust vor Begeisterung schwoll, und es kam wieder Hoffnung auf. Ach, dachte es, die Sangesglut, die in meiner Seele und in meiner Kehle wohnt, wird meine Brustfedern rot färben. Aber es täuschte sich, wie auch alle anderen nach ihm sich getäuscht haben.“
Wieder hörte man ein trübseliges Piepsen aus den halbnackten Kehlen der Jungen.
„Dann hofften wir auch auf unseren Mut und unsere Tapferkeit“, sagte der alte Vogel. „Schon das erste Rotkehlchen kämpfte tapfer mit anderen Vögeln und seine Brust glühte vor Kampflust. Ach, dachte es, meine Brustfedern werden sich rot färben von der Kampflust, die in meinem Herzen flammt. Aber es scheiterte, wie alle anderen Vögel nach ihm.
Die winzigen Jungen piepsten mutig, dass sie es doch auch versuchen wollten, die rote Farbe für ihre Brustfedern zu gewinnen. Aber der alte Vogel antwortete ihnen betrübt, dass dies wohl unmöglich sei, wo doch so viele ausgezeichnete Vorfahren das Ziel nicht erreicht hatten. Was könnten sie denn mehr tun als hoffen, lieben, singen und kämpfen? Was könnten ………
Der Vogel hielt mitten im Satz inne, denn aus einem Stadttor Jerusalems kam eine Menschenmenge gezogen, und die ganze Schar eilte den Hügel hinan, wo der Vogel und seine Jungen ihr Nest hatten.
Da waren Reiter auf stolzen Pferden, Krieger mit langen Lanzen, Henkersknechte mit Nägeln und Hämmern, da waren würdig einherschreitende Priester und Richter, weinende Frauen, und allen voran eine Menge wild umherlaufendes Volk, ein schreiendes Geleit von Landstreichern.
Der kleine Vogel saß zitternd auf dem Rand seines Nestes. Er fürchtete jeden Augenblick, dass der kleine Dornenbusch mit seinem Nest und den Jungen niedergetreten würde. Mit einem Mal hörte der Vogel auf mit seinen Warnrufen, er wurde still und stumm und dann hüpfte er in das Nest und breitete ängstlich und schützend die Flügel über seine Jungen, so dass die Kleinen nichts sehen konnten. „Nein, das ist zu entsetzlich. Ich will nicht, dass ihr diesen Anblick seht – da sind drei Verurteilte, die gekreuzigt werden sollen.“
Die Kleinen hörten nur donnernde Hammerschläge, Klagerufe und das wilde Geschrei des Volkes.
Das alte Rotkehlchen folgte dem Schauspiel mit Augen, die sich vor Entsetzen weiteten. Es konnte die Blicke nicht von den drei Unglücklichen wenden.
„Wie grausam die Menschen sind. Es ist ihnen nicht genug, dass sie diese armen Wesen ans Kreuz nageln, nein, auf dem Kopf des einen haben sie noch eine Krone aus stechenden Dornen befestigt.“
„Ich sehe, dass die Dornen seine Stirn verwundet haben und dass Blut fließt“, fuhr es fort. „Und dieser Mann sieht mit so guten und milden Blicken um sich, dass ihn jeder lieben müsste. Mir ist, als ginge eine Pfeilspitze durch mein Herz, wenn ich ihn leiden sehe.“
Der kleine Vogel begann, ein immer stärkeres Mitleid mit dem Dornengekrönten zu fühlen. „Wenn ich mein Bruder, der Adler, wäre“, dachte er, „dann würde ich die Nägel aus seinen Händen reißen und mit meinen starken Klauen alle die Leute verscheuchen, die ihn peinigen.“
Der Vogel sah, wie das Blut auf die Stirn des Gekreuzigten tropfte, und da konnte er nicht mehr still in seinem Nest bleiben.
Und der Vogel dachte „Wenn ich auch nur klein und schwach bin, so muss ich doch etwas für diesen armen gequälten Menschen tun können“ und er verließ sein Nest und flog hinaus in die Luft, weite Kreise um den Gekreuzigten in der Mitte beschreibend.
Er umkreiste ihn mehrere Male, ohne dass er sich näher zu kommen traute, denn er war ein scheuer kleiner Vogel, der es bisher nie gewagt hatte, sich einem Menschen zu nähern. Aber allmählich fasste er Mut, flog ganz nah heran und zog mit seinem kleinen Schnabel einen Dorn aus, der in die Stirn des Gekreuzigten gedrungen war.
Aber während er dies tat, fiel ein Tropfen von dem Blut des Gekreuzigten auf die Kehle des Vogels. Der verbreitete sich rasch und färbte alle die kleinen zarten Brustfedern.
Als der Vogel wieder in sein Nest kam, riefen ihm seine kleinen Jungen zu:
„Deine Brust ist rot, deine Brustfedern sind roter als die Rosen!“
„Es ist nur ein Blutstropfen von der Stirn des armen gequälten Mannes“ sagte der Vogel. „Er verschwindet, sobald ich in einem Bach bade oder in einer klaren Quelle.“
Aber so viel der kleine Vogel auch badete, die rote Farbe verschwand nicht von seiner Kehle, und als seine Kleinen herangewachsen waren, leuchtete die blutrote Farbe auch von ihren Brustfedern, wie sie seither auf jeder Brust und Kehle eines jeden Rotkehlchens leuchtet, bis auf den heutigen Tag.
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Zum Abschluss unserer Zusammenkünfte singen wir immer noch ein Lied, das wir schon sehr oft miteinander gesungen haben und wir reichen uns die Hände zum Abschiednehmen. Jetzt in der Zeit der Corona-Quarantäne, wo der direkte soziale Kontakt nicht stattfinden kann und darf, kann es jeder für sich allein singen:
„Auf Wiedersehn, auf Wiedersehn, bleib nicht so lange fort,
denn ohne dich ist’s halb so schön, darauf hast du mein Wort.“

Bei dieser Gelegenheit möchte auch ich als Ehrenamtliche DANKE sagen allen Pflegenden und den Sozialbetreuern und allen anderen Mitarbeitern des Hauses, egal an welcher Stelle und ob im stationären oder im ambulanten Dienst, die unter den derzeitigen Quarantäne-Bedingungen für die Bewohner sorgen und arbeiten und „den Laden am Laufen halten“!
Ich hoffe, dass recht bald wieder direkte soziale Kontakte ohne die derzeit gebotene Distanz möglich sein werden.
Ade und bleiben Sie alle gesund!
Mit herzlichen Grüssen und besten Wünschen
Ihre Annegret Schildknecht, ehrenamtliche Mitarbeiterin Sozialbetreuung

Hinweis: Der obige Text wird im Seniorenzentrum Martha-Maria zum Lesen und Vorlesen verteilt.

Alle Beiträge zu meinen digitalen Vorlesestunden finden Sie unter:
https://www.wochenklick.de/tag/vorlesen

Autor:

Annegret Schildknecht aus Eckental

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